Kommentar Philipp Müller:

Die gängigen Argumente zu den umstrittensten Themen der Gegner

Die Replik aus Seite der Befürworter des Rahmenabkommens

Die Differenzen zwischen dem Bundesrat und der EU-Kommission über den Vertragstext sind zu gross. Das ist nicht überraschend, denn die EU war bei den jetzt noch strittigen Punkten, der Unionsbürgerrichtlinie, dem Lohnschutz und der Regelung der staatlichen Beihilfen, nicht verhandlungsbereit.

Unionsbürgerrichtlinie

Die Schweiz kann nicht zur Übernahme der Unionsbürgerrichtlinie (UBRL) gezwungen werden. Lehnt sie dies ab, kommt ein ausgeklügelter Streitschlichtungsmechanismus zur Anwendung. Im schlechtesten Fall entscheidet das Schiedsgericht als letzte Instanz über sogenannte Kompensationsmassnahmen.

Die EU könnte beispielsweise eine Teilübernahme der UBRL einfordern, also ein Daueraufenthaltsrecht nach fünf Jahren Aufenthalt in der Schweiz. Das wäre allerdings lediglich die Fortschreibung bestehenden Schweizer Rechts im Ausländergesetz, welches für Angehörige von Drittstaaten gilt. Da heisst es in Artikel 34 Absatz 4, dass gut integrierte Ausländerinnen und Ausländern schon nach fünf Jahren unbefristet eine Niederlassungsbewilligung bekommen können. Genau das, was die Unionsbürgerrichtlinie für EU-Bürger verlangt, gestehen wir Personen aus völlig fremden Kulturen zu. Weiter wird immer wieder behauptet, dass die UBRL auch das aktive und passive Wahlrecht zugestehen würde. Das ist grundfalsch. Hier wird offensichtlich die UBRL mit der Unionsbürgerschaft verwechselt.

Lohnschutz

Im Entwurf des RA steht geschrieben, dass das EU-Entsenderecht basierend auf dem Prinzip «gleicher Lohn für gleiche Arbeit am gleichen Ort» nach einer Übergangsphase von drei Jahren übernommen werden soll, wobei jene schweizerischen Lohnschutzmassnahmen völkerrechtlich abgesichert werden, die über die im EU-Entsenderecht vorgesehenen Instrumente hinaus gehen. Unbestritten ist auch, dass die Schweiz weitergehende nationale Massnahmen einleiten kann, wenn sie notwendig und verhältnismässig sind.

Der Bericht 2020 über die Flankierenden Massnahmen hält fest, dass sich im Jahr 2019 rund 250’000 meldepflichtige Kurzaufenthalter aus der EU für einen Einsatz von maximal 90 Tagen in der Schweiz angemeldet haben. Dies entspricht weniger als einem Prozent des Schweizer Arbeitsvolumens. Die übrigen Kategorien von Beschäftigten (Kurz- und Normalaufenthalter sowie Grenzgänger) unterstehen der Lohngestaltung im Rahmen der Ortsüblichkeit bzw. den Vorgaben aus der Sozialpartnerschaft.

staatlichen Beihilfen:

Anders als vielerorts befürchtet hat die Regelung der staatlichen Beihilfen im institutionellen Abkommen Schweiz – EU keine unmittelbaren Auswirkungen auf das Freihandelsabkommen. Das Beihilfenrecht ist ein wichtiger Teil des EU-Wettbewerbsrechts. Ihm liegt der (richtige) Gedanke zugrunde, dass der Wettbewerb nicht nur durch das Verhalten von Unternehmen (etwa durch Kartelle), sondern auch durch den Staat gestört werden kann. Die Schweiz dagegen kennt – ausser vor allem in den bilateralen Freihandels- und Luftverkehrsabkommen – kein eigentliches Beihilfenrecht, was erklären mag, warum man sich hierzulande mit dem Thema eher schwertut. Doch das immer wieder zu hörende Argument betreffs Kantonalbanken oder den kantonalen Gebäudeversicherungen sticht nicht. Eine Kantonalbank oder eine kantonale Gebäudeversicherung hat nichts mit einem Marktzutritt zu tun. Und nur Marktzutrittsabkommen sind überhaupt vom RA betroffen.

nicht verhandlungsbereit

Derzeit finden sich mehr Indizien, dass die EU verhandlungsbereiter ist als die Schweiz:  («Blick»,23. 5. 21) Stéphanie Riso: «Trotzdem sind wir bereit, uns mit diesen sieben Punkten eingehend zu beschäftigen.» Man sei willens, so Riso weiter, den Vertrag «Zeile für Zeile» durchzugehen, «um zu sehen, ob wir Lösungen finden».

Die bilateralen Verträge garantieren die Teilnahme am Binnenmarkt der EU. Die Unterzeichnung des Rahmenabkommens hat mit dieser Teilnahme nicht direkt zu tun, wäre aber ein politischer und rechtlicher Integrationsschritt in Richtung EU. Deshalb enthält das Rahmenabkommen die Verpflichtung zur Übernahme von EU-Recht.

Das Rahmenabkommen enthält keinen Zwang zur Übernahme von EU-Recht. Bei einer rechtswirksamen Änderung eines dem RA unterstehenden Marktzugangsabkommens gesteht Artikel 14 des RA der Schweiz ausdrücklich zu, ihre verfassungsrechtlichen und demokratischen Abläufe einzuhalten. Im RA ist sogar der Fall eines Referendums ausdrücklich erwähnt.

… ein problematisches Streitbeilegungsverfahren mit dem Gericht der Gegenpartei

Vorab ist festzuhalten, dass der EuGH, wie jedes Gericht, dem Recht verpflichtet ist, nicht der EU-Kommission. Der EuGH ist also nicht das «Gericht der Gegenpartei, das zuständig ist für den Entscheid über einen konkreten Streitfall.» Das im RA etablierte Schiedsgericht ruft den EuGH an, wenn es um die Auslegung von EU-Recht geht – aber nur, wenn diese für die Beilegung des Streits relevant und notwendig ist. Der EuGH  hat ausschliesslich die Aufgabe, unionsrechtliche Begriffe auszulegen; diese Auslegung ist dann allerdings für das Schiedsgericht verbindlich. Auf dessen Basis fällt das Schiedsgericht – und nicht der EuGH – das Urteil im konkreten Streitfall. Werden die Parteien nicht einig, sind Ausgleichsmassnahmen vorgesehen, die aber immer verhältnismässig sein müssen. Die Verhältnismässigkeit kann die Schweiz oder die EU vom Schiedsgericht überprüfen lassen. Und in diesem Prozess hat der EuGH rein gar nichts zu sagen. Die Einrichtung eines Schiedsgerichts ist ein bedeutender Verhandlungserfolg der Schweiz. Die EU wollte dieses zuerst nicht. Es ist eine Instanz, die paritätisch ist und eigenständig entscheidet.

… eine Überwachung der Schweiz durch die EU-Kommission

Die «wirksame und harmonische Anwendung der Abkommen» ist im Artikel 7 des RA geregelt. Ziffer 1 stellt klar, dass die Parteien ausschliesslich auf ihrem eigenen Hoheitsgebiet die Anwendung sicherstellen müssen. Ziffer 2 überträgt die Kompetenz zur Überwachung der Anwendung den sektoriellen Ausschüssen. Diese sind paritätisch zusammen gesetzt – es sitzen also gleichviele Schweizer wie EU-Vertreter in diesem Gremium.

… und eine Ausweitung der Guillotine-Klausel, die neu sämtliche künftigen Verträge mit der EU umfasst.

Diese sogenannte «Guillotine-Klausel» ist nichts anderes als die Möglichkeit, das RA kündigen zu können. Die Schweiz wäre sehr schlecht beraten, wenn sie Staatsverträge ohne Kündigungsmöglichkeit aushandeln würde. In der Tat könnten sämtliche künftigen Markzutrittsabkommen durch die Kündigung des RA verfallen. Nur wird es ohne RA überhaupt keine künftigen Markzutrittsabkommen mehr geben. Also gibt es auch nichts, das verfallen könnte. Was zudem immer wieder übersehen wird: Im Kündigungsartikel 22 ist schwarz auf weiss festgehalten: «Im Falle des Ausserkrafttretens der genannten Abkommen bleiben die aufgrund dieser Abkommen erworbenen Rechte und Pflichten (…) unberührt.» Das bedeutet, dass wir hier eine gewisse Besitzstandswahrung haben und nicht einfach alles und sofort über den Haufen fällt. Dasselbe ist zudem auch im Artikel 10 Ziffer 8 festgeschrieben.

Überschätzte «Erosion des Bilateralismus»: Seit Beginn der Gespräche zum Rahmenabkommen weigert sich die EU, das Abkommen über die technischen Handelshemmnisse zu aktualisieren. Die sogenannte «Erosion der bilateralen Verträge» findet nur in diesem der fünf Marktzugangsabkommen statt – und nur, weil die EU dies so will. Das ist unschön und eine Vertragsverletzung durch die EU.

Nach jetzigem Rechtsstand besteht in keinem der fünf Abkommen, auf welche sich das RA bezieht, eine Aufdatierungspflicht. Es liegt also keine Vertragsverletzung durch die EU vor. Davon einmal abgesehen davon, dass nicht nur das Abkommen über die Technischen Handelshemmnisse zunehmend erodieren wird, wird es inskünftig noch weit mehr Branchen treffen. Nicht alle haben die Möglichkeit – oder dann nur mit erheblichen Zusatzkosten – die Zertifizierung ihrer Produkte im EU-Raum vornehmen zu lassen.

Schweizer Beteiligung an der Forschungszusammenarbeit «Horizon Europe»: Forschungszusammenarbeit mit Universitäten in der EU ist weiterhin möglich, einfach nicht mehr via das EU-Programm, Geld wäre ebenfalls vorhanden und eine Fokussierung auf Spitzenuniversitäten in den USA, Grossbritannien oder Israel statt auf das Programm der EU möglicherweise kein Nachteil.

Horizon Europe ist am 12. Mai 2021 in Kraft getreten. Die Schweiz ist (noch) nicht dabei. Aus diesem Grund müssen Forschende und Innovatoren in der Schweiz, die sich für die ersten Ausschreibungen von Horizon Europe und verwandten Programmen und Initiativen bewerben, dies als Teilnehmer aus einem assoziierten Land tun. Mit dem «Brexit-Abkommen vom Dezember 2020 einigten sich die EU und das Vereinigte Königreich (UK) auf ein Handels- und Kooperationsabkommen. Als Teil des Abkommens wird sich UK an Horizon Europe beteiligen können. Da die Zusammenarbeit zwischen der Schweiz und dem Vereinigten Königreich im Bereich Forschung und Innovation bisher hauptsächlich über die EU-Programme für Forschung und Innovation erfolgte, wird die Zusammenarbeit zwischen Forschenden in der Schweiz und in Grossbritannien auch weiterhin vorwiegend über dies EU-Programme stattfinden – UK ist also dabei, die Schweiz (noch) nicht.

Um die Beziehungen mit der EU konstruktiv weiterzuentwickeln, muss der vorliegende Abkommenstext vom Tisch. Erst dann lässt sich wieder auf Augenhöhe miteinander verhandeln. Möglicherweise ergeben sich für die oben erwähnten zwei Themen rasch pragmatische Lösungen.

  • Freigabe der «Kohäsionsmilliarde»
  • Angebot der Schweiz an die EU, dass das Abkommen über die technischen Handelshemmnisse dynamisiert wird.

Dynamisierung bedeutet in diesem Zusammenhang nichts anderes als «Aktualisierung». Die EU hat jedoch mehrfach und überdeutlich klar gemacht, dass eine Aktualisierung ohne RA nicht infrage kommen wird. Und noch dazu: Warum sollte die EU hier bereit sein, sich zum Aufdatieren zu verpflichten, ohne zugleich zu erwarten, dass es auch die Schweiz für das Freizügigkeitsabkommen zulässt?