Interview mit Carl Illi «Unter den Gegnern des EU-Deals sind Unternehmer, die im Ausland verdienen»
Von
Tages Anzeiger
am 4. November 2025
Carl Illi vertritt die weltweit zweitgrösste Industrie. Er beklagt, die Gegner würden die Öffentlichkeit «mit Fehlinformationen bombardieren».
Die Zeit, um sich zu den EU-Verträgen zu äussern, ist abgelaufen. Während die SVP und die Unternehmer von Kompass Europa seit Monaten Stimmung gegen das Vertragspaket machen, gab es bisher wenige Firmenchefinnen oder -chefs, die das Vertragspaket öffentlich verteidigt haben.
Nun erklärt Carl Illi, Chef der CWC-Gruppe und Präsident des Verbands Swiss Textiles, weshalb sich die Schweiz mit einem Nein «kannibalisieren» würde. Und er lässt offen, ob er seine Firma in diesem Fall ins Ausland verlegen würde.
Zwei Dinge. Erstens, dass jemand die geniale Idee hatte, einen Wirtschaftsverbund zu kreieren mit einem gemeinsamen Binnenmarkt, einer gemeinsamen Währung und ähnlichen wirtschaftlichen Absichten. Gerade jetzt kann das dabei helfen, dass Europa nicht zwischen Ost und West zerdrückt wird. Zweitens die Ländervielfalt. In der Schweiz sind wir davon beeinflusst: Wir sind alle ein bisschen italienisch, deutsch, französisch. Ich fühle mich auch als Europäer, obwohl ich Schweizer bin.
Nein, ein Beitritt wäre für mich momentan nicht opportun. Wir können unsere Unabhängigkeit und Freiheit derzeit besser wahren, wenn wir die bilateralen Beziehungen weiterentwickeln.
Wir werden derzeit mit Fehlinformationen bombardiert. Es wird behauptet, dass die Landfrauen ihren Zopf nicht mehr verkaufen können, weil ein Inspektor aus der EU es ihnen verbietet. Das ist Blödsinn. Und was den Souveränitätsverlust angeht: Wir sollten uns endlich eingestehen, dass wir heute schon nicht so frei sind, wie wir meinen. Wir leben in einer vernetzten Welt. Wirtschaftlich sind wir wahnsinnig eng verflochten mit der EU. Das wird immer kleingeredet. In der Textilbranche exportieren wir zwei Drittel unserer Waren in die EU. Wenn wir uns abschotten, sind wir nicht mehr wettbewerbsfähig.
Sie stellen es jetzt so dar, als wäre die Schweiz bei einem Nein zu diesen Verträgen komplett isoliert. Dabei würden die Bilateralen I und II nicht einfach wegfallen.
Egal ob mit oder ohne Verträge: Wenn wir unsere Produkte in der EU verkaufen wollen, müssen wir uns an deren Richtlinien halten. Der Aufwand ist einfach viel grösser, wenn klare Regeln fehlen. Der grösste Teil der Industrie in der Schweiz sind KMU – und die wenigsten von ihnen haben Ableger im Ausland. Wenn die EU die Zertifizierungen unserer Produkte nicht mehr anerkennt, wird es kompliziert. Hinzu kommt, dass wir uns ohne die neuen Verträge nicht einbringen können. Wir sitzen nicht am Tisch in Brüssel, sondern sind passive Zuschauer. Ich verstehe nicht, weshalb wir uns kannibalisieren und einen Grossteil unserer Exporte erschweren sollen, indem wir Nein zu diesen Verträgen sagen.
Die Schweiz könnte künftig zwar mitreden zu Beginn einer Gesetzgebung in der EU – aber mitentscheiden könnte sie weiterhin nicht. Und als kleines Land hat die Schweiz kaum Gewicht. Wie soll sie sich durchsetzen?
Hoffentlich besser als gegenüber Donald Trump. (lacht) Anders als gegenüber den USA finden wir aufgrund unserer Wirtschaftskraft und unserer Bedeutung als Handelspartnerin in Europa durchaus Gehör. Was mir aber auch wichtig ist: Wenn wir später unzufrieden sind mit diesen Verträgen, können wir sie jederzeit auflösen.
Es würde komplizierter werden. Um im Wettbewerb zu bestehen, muss ich stetig neue Produkte generieren. Dazu brauche ich genügend Mitarbeiter, möglichst wenig Bürokratie und den bestmöglichen Marktzugang. Nur so kann ich mit Anbietern aus Ländern konkurrieren, die ihre Industrie subventionieren, etwa bei den Stromkosten. In der Schweiz sind die hohen Strompreise ein Problem. Vor drei Jahren sind sie wegen Knappheit explodiert, und das kann jederzeit wieder passieren. Das Stromabkommen könnte hier helfen.
Die EU hat viel mehr neue Gesetze gemacht in den letzten Jahren als die Schweiz. Dann ist es für Sie doch kontraproduktiv, wenn die Schweiz viele dieser Regeln übernimmt?
Die EU hat realisiert, dass sie Bürokratie abbauen muss. Aber nicht alle neuen Regeln sind schlecht. Die Textilbranche ist die zweitgrösste Industrie weltweit, nach der Nahrungsmittelindustrie. Und sie verbraucht sehr viel Wasser und Energie. Ich finde es richtig, wenn die EU vorgibt, dass Textilien nicht mehr einfach verbrannt werden dürfen, und wenn sie Regeln für Billigketten wie Temu und Shein aufstellt. Hier sollten wir als Schweiz keinen Extrazug fahren.
Ich möchte mich nicht aus der Schweiz wegbewegen – es sei denn, ich muss. Falls das Vertragspaket abgelehnt wird, müssen wir entscheiden, ob wir das Überleben der Firma für die nächste Generation in der Schweiz noch garantieren können. Für uns wäre ein Wegzug ins Ausland möglich, aber viele kleinere Unternehmen können nicht einfach sagen: Jetzt gehen wir in ein anderes Land. Ihnen fehlen die finanziellen Mittel. Derweil hat es unter den Gegnern der Bilateralen III Unternehmer, die den Hauptteil ihres Geldes im Ausland verdienen. Ich finde es fatal, dass ausgerechnet diese Leute uns sagen, die Verträge würden uns abhängiger machen von der EU. Sie vertreten nur ihre Eigeninteressen.
Die Unternehmer auf der Gegnerseite sind sehr aktiv. Dagegen gibt es wenig Leute aus der Wirtschaft, die hinstehen und sagen: «Wir brauchen diese Verträge.» Woran liegt das?
Das ist für mich unbegreiflich. Natürlich ist es schwieriger, den Leuten diese Zusammenhänge zu erklären, als mit einfachen Parolen Ängste zu schüren. Nicht nur in der Schweiz, sondern auch in vielen europäischen Ländern sind Rechtspopulisten damit erfolgreich. Sie können Behauptungen aufstellen, ohne Beweise dafür liefern zu müssen. Etwa, dass die Verträge mit der EU keine Vorteile bringen.
Ein geregeltes Verhältnis mit der EU. Andere Märkte brechen gerade weg. Unsere Pharma-, Uhren- und Maschinenindustrie stehen wegen der US-Zölle unter enormem Druck. Zusätzlich zu diesen Problemen sollen wir nun auch noch unseren wichtigsten Markt und die Beziehung zur EU aufs Spiel setzen? Die Logik dahinter sehe ich nicht. Und dass die EU hierzulande so schlechtgeredet wird, verstehe ich auch nicht.
Es gibt aber auch viele Erfolgsgeschichten. Polen beispielsweise prosperiert, Tschechien hat eine niedrige Arbeitslosigkeit. Estland ist in der Digitalisierung sogar Vorreiter und deutlich weiter als die Schweiz. Diese Mär, dass in der EU alles schlecht läuft, ist einfach falsch.
Das Thema Zuwanderung dürfte im Abstimmungskampf zentral werden. Aus der EU könnten wegen der Unionsbürgerrichtlinie künftig mehr Menschen in die Schweiz kommen, die von Sozialleistungen abhängig werden.
Das ist auch so eine Behauptung, für welche die Gegner der Verträge keine Belege liefern können.
Die Schutzklausel erlaubt es uns aber auch, Massnahmen zu ergreifen, falls die negativen Folgen der Zuwanderung zu gross werden. Ich persönlich rechne nicht damit, dass wir überrannt werden. Wann gab es in der Vergangenheit je eine gezielte Einwanderung in die Sozialwerke? Es stimmt, die Schweiz ist schnell gewachsen. Auf dem Zug oder der Autobahn herrscht Dichtestress. Und bei der Infrastruktur besteht sicher Verbesserungspotenzial. Aber das ist der Preis, den wir für unseren hohen Lebensstandard bezahlen. Aufgrund unserer Demografie werden wir in den kommenden Jahren 40’000 Arbeitnehmende verlieren – pro Jahr. Auch wenn der gesellschaftliche Druck heute in die gegenteilige Richtung geht, sage ich: Wir werden Zuwanderung brauchen – sonst müssen wir schmerzhafte Abstriche beim Wohlstand machen.

