Souveränität oder die Frage nach unserem Platz in der Welt
Von
Felix R. Ehrat
am 21. August 2025
Die Welt verändert sich zurzeit rasch und manövriert politisch und wirtschaftlich zwischen der zunehmend autoritären und selbstherrlichen Regierung der Vereinigten Staaten und einem diktatorischen China und totalitären Russland. Die Veränderungen von einer multipolaren, kooperativen Welt zum Machtanspruch von wenigen Grossmächten, die Entwicklungen der künstlichen Intelligenz und die bis vor kurzem noch unvorstellbare Schnelligkeit der Veränderungen überfordern uns. Überforderung führt zu Verunsicherung. In dieser Situation ist Selbstbewusstsein gefragt – auch in Bezug auf die Geschichte und die Perspektiven unserer Souveränität als stetes Wechselspiel von Abgrenzung und Auseinandersetzung mit unseren Nachbarn. Darum geht es im vorliegenden Beitrag.
Derzeit ist die Schweiz in Aufruhr und unser Selbstverständnis ist erschüttert, weil unsere «Schwesterrepublik», die USA, uns erbarmungslos und unerwartet eine exorbitante Zoll-Last von 39% aufgebrummt hat. Sie führt Bereiche unserer Wirtschaft in massive Schwierigkeiten und wir wissen noch nicht einmal, ob es nicht noch schlimmer kommt. Ein geeigneter Moment, um über die Rolle des Kleinstaats Schweiz im europäischen und globalen Gefüge nachzudenken.
Was sich nicht verändert, sind Geografie und Geschichte: Wir sind im Herzen von Europa mit über die Jahrhunderte gewachsenen engen Verflechtungen auf allen Ebenen – kulturell, gesellschaftlich, politisch, wirtschaftlich. Wir kaufen in Singen ein, gehen nach Spanien in die Ferien, bringen uns in vielen europäischen Institutionen als Mitglied ein, lassen unsere Kampfflugzeuge über Sardinien üben, unsere Forschung und Studierenden haben Zugang zu europäischen Forschungsprogrammen und wir exportieren über 60% unserer Güter und Dienstleistungen nach Europa. Als Schweizer verfügen wir über ein uns prägendes Bild von Freiheit, Unabhängigkeit und Selbstbestimmung, das historisch gewachsen, politisch und emotional aufgeladen und vielen Interpretationen zugänglich ist. Souveränität war nie eine absolute, starre Grösse oder ein klar umrissener Wert, nie Selbstzweck, immer in Bewegung und damit auch zukunftsfähig.
Diese Abhängigkeiten und Verflechtungen finden sich wieder in der Souveränitätsdiskussion im Zusammenhang mit den Bilateralen III. Die Gegner der Bilateralen argumentieren, dass Souveränität im Sinne von grösstmöglicher politischer Selbstbestimmung und Unabhängigkeit zu verstehen sei und behaupten, dass die Schweiz allein durch diese Welt gehen könne. Sie warnen davor, dass die Schweiz durch die Abkommen wesentliche Kompetenzen und Entscheidungsfreiheiten unwiderruflich an die EU abgebe und dadurch ihre Souveränität aufs Spiel setze. Politische Abschottung verbunden mit wirtschaftlicher Öffnung sind ihre Devisen. Dass beides auf die Länge nicht zusammengeht, will ihnen nicht einleuchten. Wer aus diesen Lagern Souveränität ins Spiel bringt, will Alarm schlagen und verkünden, dass es um nichts weniger geht als um die Freiheit, die Unabhängigkeit und die Selbstbestimmung der Schweiz.
Diese Darstellung ist falsch, alarmistisch und wird der Welt, in der wir leben, nicht gerecht. Sie gründet auf unserem Gründungsmythos und auf einer Nationalidee, die nie den historischen Tatsachen entsprachen. Sie ist von der Realität weit entfernt, da die Schweiz eben gerade nicht mit der Bekämpfung und Abwehr ihrer Nachbarn zu einer identitätsstarken, erfolgreichen Nation wurde, wie dies von Populisten und Nationalisten beliebt gemacht wird. Allenfalls dient das falsche Narrativ eigenen Interessen der lautstark auftretenden Gegner, nicht aber einer zukunftsorientierten Weiterentwicklung der Schweiz für jetzige und zukünftige Generationen. Die Mär von den bösen Vögten in Brüssel wird durch häufige Wiederholungen nicht wahrer, unabhängig davon, dass auch in der EU nicht alles gut läuft.
Wie der Historiker André Holenstein in seinem lesenswerten Werk[1] nachweist, wurde Souveränität in der Schweiz immer als Instrument im Dienst von Frieden, Wohlstand und Weiterentwicklung verstanden – dynamisch, anpassungsfähig aber stets den Interessen unseres Landes dienend. Die Erfahrung, dass klug verstandene und gelebte Souveränität Wohlstand und Frieden schafft, geht in der Schweiz weit zurück; Holenstein zeigt dies eindrücklich auf. Die Bündnisse (altdeutsch für bilaterale Abkommen) der Alten Eidgenossenschaft mit ihren Verbündeten verhalfen allen Parteien zu mehr Einfluss, Ressourcen und wirkten friedensstiftend. Dazu gehörten Abkommen zwischen den Kantonen, aber auch Allianzen mit auswärtigen Mächten wie Frankreich oder Habsburg-Österreich. Ähnliche Effekte finden sich auch heute innerhalb der Schweiz: Die Kantone haben zwar in zahlreichen Bereichen weitreichende Autonomie, sind aber mit dem Bund in ein Gesamtsystem eingebunden, das sich durch enge Zusammenarbeit auszeichnet. Souveränität ist kein Zustand, sondern entwickelt sich kontinuierlich weiter.
Darum geht es auch bei den Bilateralen III. Wer gerade vor dem Hintergrund der Ereignisse der letzten Monate noch ernsthaft glaubt, dass sich die Schweiz mit einem politischen Alleingang, ohne verlässliche Partnerschaft, in Wohlstand und Frieden weiterentwickeln kann, gibt sich einer Illusion hin. Mit den erfolgreich verhandelten Bilateralen III kann die bereits bestehende und bewährte Partnerschaft mit der EU im Interesse beider Parteien, ganz besonders der Schweiz, weitergeführt werden. Die Partnerschaft ist massgeschneidert und im Wesentlichen auf unseren Zugang zum europäischen Binnenmarkt beschränkt; viele Politik- und Wirtschaftsfelder wie Steuern, Währung, Aussen- und Klimapolitik werden von den Bilateralen III nicht erfasst. Die von den Gegnern hart kritisierte dynamische Rechtsübernahme führt zu keinen Automatismen; die Schweiz kann immer noch ablehnen. Entsprechend findet keine Übertragung von Souveränität statt; die Behauptungen der Gegner, dass die Schweiz «in der Realität nichts anderes als übernehmen könne», ist rechtlich falsch und redet die Stärke unseres direktdemokratischen Systems, unserer Institutionen und unserer Traditionen klein. Selbstbewusstsein sieht anders aus. Richtig ist, dass diese Rechtsübernahme in ihrer Breite eine Novität darstellt. Eine Dramatisierung gegenüber der heutigen Situation ist trotzdem unangebracht, da unsere Gerichte schon längst von der Rechtsprechung in Europa beeinflusst sind und der «autonome Nachvollzug» von EU-Recht, ohne jegliche Mitsprachemöglichkeit, eher die Regel als die Ausnahme darstellt. Das erzielte Verhandlungsergebnis übertrifft die Erwartungen bei Weitem, auch wenn – wie in jeder Vertragsverhandlung – das für uns maximal Beste nicht überall konsensfähig war. Es ist für uns zukunftsfähig, lässt unsere direkte Demokratie unangetastet und gibt uns Mitsprachemöglichkeiten im Gesetzgebungsprozess. Die Bilateralen III schaffen in einer unruhigen Welt Stabilität mit der EU und damit mit unseren Nachbarn, sind im Interesse der Menschen und geben uns Zugang zum grössten Binnenmarkt der Welt. Eine Ablehnung der Bilateralen III wäre eine riskante Wette auf eine unsichere Zukunft. Die Briten können mit ihrem Brexit ein Lied davon singen.
Bei den Bilateralen III geht es nicht darum, Souveränität abzugeben, sondern sie in den Dienst eines grösseren Ganzen zu stellen. Dies gilt auch für die von den Gegnern oft kritisierte limitierte Kompetenz des Europäischen Gerichtshofs (EUGH); selbst hier hat die Schweiz die Möglichkeit, unter Inkaufnahme von Ausgleichsmassnahmen, die erst noch von einem unabhängigen Schiedsgericht überprüft werden, souverän nach ihren eigenen Vorstellungen zu handeln.
Die Stabilisierung der Beziehungen zu den europäischen Ländern und der EU sowie die Teilnahme am Binnenmarkt sind in unserem ureigenen Interesse, das wir mit den Bilateralen III durch eine zeitgemässe Fortentwicklung unserer historisch gewachsenen Souveränität realisieren können. Die gegnerische Souveränitätsdiskussion qualifiziert sich damit als Ablenkungsmanöver für weltfremde und schädliche Abschottungsziele. Mit der Zustimmung zu den Abkommen gestalten wir in Zukunft die Regelungen, die für den Zugang unserer Wirtschaft zum EU-Binnenmarkt und die Zusammenarbeit mit der EU wichtig sind, eigenverantwortlich mit. Wie in allen Vertragsverhandlungen werden wir unsere Vorstellungen nicht immer vollumfänglich durchsetzen können; als souveräner Staat aber haben wir im Gegensatz zu heute eine Stimme und einen Platz am Tisch. Dadurch setzen wir den erfolgreichen und historisch bewährten bilateralen Weg unter Wahrung unserer Souveränität fort, angepasst an neue Realitäten. Selbstbewusst und selbstbestimmt. Wir können es.
[1] André Holenstein, Mitten in Europa – Verflechtung und Abgrenzung in der Schweizer Geschichte, 3. Auflage, Baden, 2021